Wednesday, 12. June 2024

Erste Dekade Maimonides Lectures (german only)

Am 22. und 23. Mai 2024 entfaltete sich erneut der Dialog zwischen Wissenschaften und Abrahamitischen Religionen, die 18. Maimonides Lectures, im Festsaal der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften (KL).

Die Maimonides Lectures sind eine gemeinsame Unternehmung unserer Universität, der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) und der Abrahamitischen Religionen in Österreich dank der Förderung und unter der Schirmherrschaft des Amtes der Niederösterreichischen Landesregierung.

Die Jubiläumsveranstaltung widmete sich dem Thema Medical Humanities: Ärzt:innen am Bett religiöser Patient:innen. Die Maimonides Lectures stellten, unter der wissenschaftlichen Leitung der wirklichen Mitgliedern ÖAW Univ.-Prof.in Dr.in Patrizia Giampieri-Deutsch und Univ.-Prof. Dr. Hans-Dieter Klein, die herausfordernde Aufgabe des Zuhörens und Verstehens der subjektiven Vorstellungen und Gefühle von religiösen Patient:innen im Hinblick auf Gesundheit, Krankheit, Leben und Tod in den Fokus. Das „Hören mit dem dritten Ohr“, um den Psychoanalytiker und Religionswissenschaftler Theodor Reik zu zitieren, ermöglicht ein erweitertes Zuhören in der therapeutischen Beziehung zwischen behandelnden und behandelten Personen und eine Annäherung der Ärtz:innen zum mentalen und praktischen Leben ihrer religiösen Patient:innen in unserer heutigen multikonfessionellen Gesellschaft.

Erster Veranstaltungstag: Eröffnung und Keynote
Als Auftakt der 18. Maimonides Lectures am Mittwoch, 22. Mai 2024, um 17:00 hielt der Rektor der KL Univ.-Prof. Dr. Rudolf Mallinger, seine Jubiläumsansprache und überbrachte die Grußbotschaft der Landeshauptfrau von Niederösterreich Frau Mag.a Johanna Mikl-Leitner und verlas ihre anerkennenden Worte. Univ.-Prof. Dr. Arnold Suppan, Vizepräsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) a. D. überbrachte die Grußadresse des Präsidiums der ÖAW. Als international renommierter Historiker erinnerte er in seiner Festanrede daran, dass die k. und k. Monarchie als Vielvölkerstaat für die geistlichen Vertretung aller Abrahamitischen Religionen selbst im Ersten Weltkrieg sorgte. S.E. Weihbischof Mag. Dr. Franz Scharl, die Wünsche der Erzdiözese Wien überbringend, erläuterte in seinem Vortrag den philosophischen Begriff der Wahrheit und den theologischen und ethischen Wert der Wahrhaftigkeit.

Die Keynote Lecture Medizin im multikonfessionellen Kontext. Kommunikation als Schlüssel zu sinngeleitetem Entscheiden und Handeln wurde vom Festredner Priv.-Doz. Dr. med. Dr. theol. Dr. phil. Karl Hunstorfer, Stationsarzt in der Abteilung für Innere Medizin mit Schwerpunkt Onkologie im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder sowie Privatdozent an der Katholischen-Theologischen Fakultät an der Universität Wien, vorgetragen. Darin ging der Keynote-Speaker der Frage nach, wie in der heutigen zwar patient:innenorientierten, jedoch zunehmend spezialisierten Medizin und einem auf Effizienz und Einsparung von Ressourcen orientierten Gesundheitssystem eine gelungene Kommunikation zwischen Ärzt:innen und Patient:innen gestaltet werden kann. „‚Zuhören‘ ist deshalb auch eine zentrale Forderung im Ärzt:innen-Patient:innen-Verhältnis, weil die ärztliche Tätigkeit selbst durch die Begleitung und Betreuung zu Fragen nach der conditio humana führen“, so Dozent DDDr. Hunstorfer.

Zweiter Veranstaltungstag: Vertiefende Einblicke in die Thematik und Diskussion
Das Symposion der 18. Maimonides Lectures eröffnete Frau Prorektorin Mag.a Sabine Siegl-Amerer am Donnerstag, 23. Mai 2024 um 10:00 Uhr im KL Festsaal, die in ihrer Begrüßungsrede die Bedeutung und den verbindenden Charakter der Unternehmung hervorhob und sich erfreut über die laufende kooperative und nachhaltige Forschung auf höchstem Niveau zeigte, welche im Rahmen der Maimonides Lectures seit nunmehr zehn Jahren verwirklicht wird.

Oberrabbiner Jaron Engelmayer überbrachte die Auspizien der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und leitete mit seinem Vortrag zum Thema ‘In einer Stunde steckt das ganze Leben‘ – über Qualität und Quantität des Lebens aus jüdisch-theologischer Sicht in die Thematik ein. Dabei beleuchtete Oberrabbiner Engelmayer ausgewählte theologische Inhalte und Schriften vor dem Hintergrund der irdisch-biologischen Form von Leben und der theologischen Betrachtungsweise des „ewigen Lebens“. Zwar seien Leben und Tod von Gott vorherbestimmte Wirklichkeiten, über dessen Ende der Mensch nicht bestimmen dürfe und dessen Wahrung aus medizinischer Sicht von höchster Priorität sei, doch sei die ärztliche Intervention zur Wahrung und Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens, selbst wenn dieses nur um eine Stunde verlängert werden könne, von oberster Priorität.

Univ.-Prof.in Dr.in habil. Patrizia Giampieri-Deutsch, wissenschaftliche Leiterin der Maimonides Lectures, Professorin für Psychotherapieforschung sowie Leiterin des Fachbereichs Psychodynamik an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, widmete ihre anschließende Einführung dem Thema ‚Hören mit dem dritten Ohr‘: das Zuhören einer/einem anderen. Ronald A. Carson und Thomas R. Cole steckten seit den 1960er Jahren an der University of Texas Medical School in der Medical Branch in Galveston bzw. in Houston, die Konturen eines multidisziplinären Feldes ab, in welchem Medizin und Humanwissenschaften in Dialog und Austausch über Erfahrungen und begriffliche Fragen treten können. Kernfragen der Medical Humanites betreffen die subjektiven Theorien über den Anfang und das Ende des Lebens und deren Bezug zum Göttlichen, oder die subjektiven Auffassungen über Krankheit und Gesundheit, den Zusammenhang von physikalischen und mentalen Zuständen und ihren Bezug zu den Ansätzen der Abrahamitischen Religionen, weiter Fragen der Religionsfreiheit und ihre Beziehung zur religiösen Erfahrung sowie zu den religiösen Denk- und Lebensformen.

Dabei zitierte Prof.in Giampieri-Deutsch Theodor Reiks Worte: „Eine der Eigenarten dieses dritten Ohrs ist, dass es auf zwei Kanälen hört. Es kann erfassen, was andere Leute nicht sagen, sondern nur fühlen und denken; es kann aber auch nach innen gerichtet werden. Es kann Stimmen aus dem Inneren hören, die sonst nicht hörbar sind, weil sie vom Lärm unserer bewußten Gedankenprozesse übertönt werden […] écouter aux voix intérieurs […]“ (1948) und führte weiter aus: „In ihren beruflichen Beziehungen mit Patient:innen bieten die heutigen Vortragenden ihr drittes Ohr gläubigen Leidenden, wie auch allen anderen hilfesuchenden Patient:innen. Sie bilden einen besonderen Raum, damit Worte überhaupt ausgesprochen werden können und den Patient:innen ein einfühlendes Zuhören angeboten werden kann.“

Den Vormittagsvorsitz hatte der Altdekan der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Präsident des Koordinierungsausschusses für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Univ.-Prof. i.R. Dr. Martin Jäggle, inne. Er betonte, wie wichtig es auch im Kontext der Arzt:in-Patient:in-Beziehung sei, zur „religiösen Selbstreflexion“ anzuleiten. Institutionen, wo Patient:innen behandelt werden, ließen den „Menschen in seinen Eigenheiten“ zu oft außer Acht und „würdigten die Religionsbekenntnisse“ des Individuums in unzureichendem Ausmaß. Ein wichtiger Indikator einer wertschätzenden institutionellen Kultur sei, so Altdekan Jäggle, die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse religiöser Patient:innen. Ein Beispiel dafür ist das Angebot von Koscherem Essen in allen Wiener Krankenhäusern.

Vorträge und Diskussionen
Im Vormittagsprogramm erörterte Rector emeritus Univ.-Prof. Dr. Dr.h.c. Wolfgang Schütz, Altrektor der Medizinischen Universität Wien, em. Universitätsprofessor für Pharmakologie und Vorsitzender des Universitätsrats der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, die Selbstreflexion ärztlichen Handelns in der postmodernen Medizin und beleuchtete dabei die Entwicklung der Arzt:innen-Patient:innen-Beziehung aus medizingeschichtlicher Perspektive. Selbstreflexion im ärztlichen Handeln zusammen mit Empathie seien zentrale Faktoren bei der Weiterentwicklung und Akzeptanz der evidenzbasierten Medizin. Von Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre genossen Ärzt:innen, so Altrektor Schütz, hohes Ansehen und widmeten ihren Patient:innen ausgiebig Zeit (Phase der „deep empathy“). Dies nahm mit der Entwicklung modernerer therapeutischer Möglichkeiten, v. a. im Bereich der Pharmakotherapie immer mehr ab. Mit zunehmender Patient:innenmündigkeit und Wissenschaftsskepsis verlor die Medizin jedoch ihre hierarchische Struktur. Ärzt:innen müssen heute hinterfragen, ob eine evidenzbasierte Therapie für die jeweilige Patientin bzw. den jeweiligen Patienten geeignet ist. Mit Blick auf die Zukunft meint Altrektor Schütz, dass behandelnde Personen, die durch Präzisionsmedizin und künstliche Intelligenz gewonnene Zeit für ihre persönliche Zuwendung den Patient:innen und direkte Untersuchung nutzen sollten.

Der Frage Hat die Konfession Einfluss auf die Art und den Stil der Kommunikation und die Begegnung mit Patient:innen? Eine persönliche Reflexion nach 35 Jahren allgemeinmedizinischer Tätigkeit ging Dr. med. univ. Karl-Heinz Michalek, Arzt für Allgemeinmedizin in seinem Vortrag nach. Dr. Michalek hob die zentrale Rolle die individuelle Biografie, neben charakterlichen, kulturellen und familiären Einflüssen, in zwischenmenschlichen Beziehungen hervor und befasste sich mit der Auswirkung der religiösen Zugehörigkeit und die damit verbundene Wertestruktur und Weltanschauung auf die Interaktion zwischen Ärzt:innen und Patient:innen auswirke. Der Vortrag zielte darauf ab, diese Frage durch eine kritisch-reflektierende, wenn auch subjektive, Rückschau auf jahrzehntelange ärztliche Praxis zu untersuchen. Gleichzeitig sollen die ärztlichen und nicht-ärztlichen Teilnehmenden zu eigener Selbstreflexion angeregt werden.

Den Nachmittagsvorsitz übernahm Univ.-Prof.in Dr.in Danuta Shanzer, Professorin für lateinische Philologie der Spätantike und des Mittelalters an der Universität Wien. Im Nachmittagsprogramm wurden medizinethische Aspekte im jüdischen und muslimischen Glauben diskutiert. Eva Weisz, biomedizinische Analytikerin und Leiterin der jüdischen Patient:innenbetreuung am AKH Wien sowie Dr. Willy Weisz, Wissenschaftler des Computational Science Center der Universität Wien und Vizepräsident des Koordinierungsausschusses für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und Mitarbeiter in der jüdisch religiösen Betreuung am AKH Wien, sprachen in ihrem Vortrag über die Pflegeanweisungen für Körper und Psyche – jüdische Medizinethik seit drei Jahrtausenden.  Das menschliche Leben ist gemäß der Torah heilig und von Anfang bis Ende zu bewahren (Genesis 1,27; Leviticus 18,5). Diese Prinzipien bilden die Grundlage für eine jüdische Medizinethik, die sowohl körperliche als auch psychische Gesundheit berücksichtigt. Der RaMbaM (Maimonides) betonte bereits im 12. Jahrhundert die Bedeutung der Pflege von Körper und Psyche. Das darauf basierende Werk Jewish Medical Ethics: A Comparative and Historical Study of the Jewish Religious Attitude to Medicine and Its Practice (1959 und 1975) von Rabbiner Lord Dr. Immanuel Jakobovits, dem späteren Oberrabbiner des englischen Commonwealth, verbindet jüdische Glaubenssätze mit medizinischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und bietet Anweisungen für das praktische Handeln zum Erhalt und zur Wiederherstellung von Leben und Gesundheit.

Univ.-Prof. Dr. Abdullah Takim, Professor für Islamische Theologie, Department of Islamic Theology and Religious Education der Universität Innsbruck, erörterte in seinem Vortrag Medizinethische Aspekte im Islam: Praktische Relevanz in der Betreuung von muslimischen Patient:innen. Professor Takim stellte die Herausforderungen innerhalb des Gesundheitswesens in pluralen Gesellschaften in den Fokus. In diesen begegnen einander täglich Gesundheitsfachkräfte und Patient:innen unterschiedlicher kultureller und religiöser Backgrounds, was zu Interessen- und Wertekonflikten führe. Nicht nur auf der klinischen Station, sondern auch in der Allgemeinmedizin treten aufgrund der kulturellen, religiösen und weltanschaulichen Vielfalt Interessens- und Wertekonflikte auf. Kulturelle und religiöse Einflüsse auf Vorstellungen und Verständnis von Gesundheit und Krankheit einerseits, sowie auf die Entscheidungsfindung von Patient:innen andererseits sind Ausgangspunkt ethischer Fragen, die sowohl das medizinische Personal als auch die Patient:innen vor Herausforderungen stellen. Daher sei es, wie Professor Takim ausführt, besonders in europäischen Ländern von Bedeutung, dass sich medizinische Fachkräfte mit den kulturellen und religiösen Unterschieden auseinandersetzten. Besonders komplex seien dabei die medizinethischen Probleme zwischen muslimischen Patient:innen und deutschsprachigen Gesundheitsfachkräften. Eine bessere Vermittlung von Informationen über den kulturellen und religiösen Hintergrund muslimischer Patient:innen könne aber langfristig zur Lösung dieser ethischen und sozialen Probleme beitragen.

Conclusio: 10-jähriges Jubiläum Maimonides Lectures
Die 18. Maimonides Lectures waren ein beachtlicher Erfolg und boten eine Plattform für den interdisziplinären und interreligiösen Austausch zu zentralen Themen des Forschungsfeldes Medical Humanities die den multidisziplinären Bereich an der Schnittstelle der Medizin und Humanwissenschaften umfassen. Die Medical Humanities zielen darauf ab, medizinisches Fachpersonal durch ein eine intellektuelle und zugleich praxisnahe Auseinandersetzung mit der Vielfalt menschlicher Bedürfnisse zu sensibilisieren. Dabei soll die Reflexion über die eigenen Funktion und Wirken, über die eigene Offenheit für unterschiedliche Argumente nicht zuletzt aus der Perspektive der Patient:innen sowie über die eigene ethische Entscheidungsfindung gefördert werden und zu einem Komplement  der medizinischen Ausbildung und Substantiierung der medizinischen Praxis führen.

Den Abschluss des Symposiums markierte eine Podiumsdiskussion – moderiert von w.M. Univ.-Prof.in Giampieri-Deutsch –, an welcher Dozent DDDr. Karl Hunstorfer, Univ.-Prof. Wolfgang Schütz, Dr. Karl-Heinz Michalek, Univ.-Prof. Abdullah Takim, Eva Weisz und Dr. Willy Weisz teilnahmen. Besonders erfreulich war der rege und fruchtbare Austausch, an dem sich Studierende der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften und Arzt:innen aus den Unikliniken unserer KL mit Fragen und Einwürfen einbrachten. Die 18. Maimonides Lectures boten einen vielfältigen Einblick in die Praxis der Medizin im multikonfessionellen Kontext und stärkten einmal mehr die Zusammenarbeit zwischen den Abrahamitischen Religionsgemeinschaften und der Scientific Community in Österreich.